Ein Schlüssel zum Verständnis der Artenvielfalt


ZOOLOGIE
Hinterkiemerschnecken haben sich mit bizarren Mechanismen an das Leben im Meer angepasst


Text von Claudia Wallendorf, Fotos von Veronika Trappe

Langsam, schleimig und in der nackten Version wohl auch ein bisschen eklig: Schnecken dürften auf den Hitlisten der Lieblingstiere nicht auf einem der vorderen Plätze landen. Das Verhältnis zu ihnen ist ambivalent: Im Garten sind sie als Salatfresser gefürchtet. Als angebliche Delikatesse landen sie manchmal selbst im Kochtopf. Als Wohnaccessoire zieren sie Regale und Sideboards: Trägt diese Schnecke doch in der Regel ein hübsches Haus mit sich herum und ist somit ein "Hingucker". Aber so richtig ausgeprägt ist das Interesse an diesem Tier bei den meisten Menschen nicht.


Doch Biologen wissen es besser. Schnecken sind die artenreichste Tierklasse aus dem Stamm der Weichtiere. Mehr als 90.000 Arten sind bekannt. Schnecken leben an Land und im Wasser. Ihre Systematik ist nicht eindeutig geklärt. Sozusagen behelfsmäßig unter-scheidet die Forschung zwischen drei Hauptgruppen, denen diverse Untergruppen zugeordnet sind: Vorderkiemerschnecken, Lungenschnecken und Hinterkiemerschnecken. Letzteren gilt Heike Wägeles ganze wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Sie arbeitet am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig. Weltweit beschäftigen sich nur rund 100 Wissenschaftler unter dem Aspekt der Evolutionsforschung mit den etwa 6.000 Arten der Hinterkiemerschnecken, erzählt Wägele. Forschungsstationen sind auf der ganzen Welt angesiedelt. Schließlich sind diese Schnecken von der Antarktis bis in die Tropen in allen Weltmeeren verbreitet. Man findet sie bis in 4 000 Meter Tiefe.


Was aber macht diese Tiere so faszinierend? Nicht nur ihre extravaganten Farben - orange, violett, türkis oder grün - und ihre teils bizarr korrallenartigen Formen. Es sind vielmehr einzigartige biologische Phänomene, die sich bei diesen Tieren beobachten lassen: "Ursprünglich hatten die Hinterkiemerschnecken ein Gehäuse", erklärt Wägele. "Dann gab es den Trend, das Gehäuse zu verkleinern. Wahrscheinlich, weil die Schnecken damit zu unbeweglich waren."
Da die schützende Schale fehlte, mussten die Schnecken neue Wege finden, sich vor Fressfeinden zu schützen.

 Wunder der Evolution: Hinterkiemerschnecken bestechen durch ihre Formen- und Farbenvielfalt.

 Eine der Überlebensstrategien ist, sich in der Farbe der Umgebung anzupassen. Weitaus bemerkenswerter ist da schon die Technik, Giftstoffe über die Nahrung aufzunehmen, im eigenen Körper einzulagern und schließlich sogar selbst zu produzieren. "Es konnte nachgewiesen werden, dass es zu biochemischen Veränderungen kommt", sagt Wägele. Das macht die Tiere selbst hochgradig giftig und für ihre Fressfeinde letztlich ungenießbar, denn eine Schnecken-Mahlzeit kann tödlich sein.


Es gibt aber noch andere raffinierte Methoden: "Wenn Schnecken zum Beispiel Korallen und deren Verwandten anfressen, nehmen sie deren giftige Nesselkapseln mit in ihren Organismus auf. Die Kapseln mit Nesselfaden und Gift bleiben im Körper aktiv und können nun gegen Feinde eingesetzt werden", erklärt die Biologin. Andere Schnecken sind wiederum dazu in der Lage, Chloroplasten aus Algen einzulagern und mit ihnen Photosynthese zu betreiben. Von einer ist nun bekannt, dass sie sogar Gene aus den Algen übernommen hat und nun selber vermutlich die Chloroplasten herstellen kann.


Aufgrund ihrer Fähigkeiten sind Hinterkiemerschnecken für die Pharmaindustrie interessant. Für die Alzheimer-Forschung sind der Seehase Aplysia und die Fadenschnecke Hermissenda von Bedeutung. An ihnen untersucht man das Lernverhalten und wie sich das Gelernte neuronal manifestiert. Das ist möglich, weil die Schnecken so große Nervenzellen und riesige Nerven haben. Diese Aspekte stehen bei Wägele und ihren Kollegen nicht im Vordergrund: "Es geht uns um reine Grundlagenforschung", erklärt die Biologin. Um besser zu verstehen, warum und wie es zu der Artenvielfalt auf unserem Planeten gekommen ist, bieten sich die Hinterkiemerschnecken als Studienobjekt an.

 

 "Spanische Tänzerin", eine der größten Nacktschnecken